Die Schweiz - Gruppenmitglied im Widerstand
Vorbemerkung
Der Zusammenbruch der schweizerischen Fluggesellschaft Swissair im Oktober 2001 löste in der Schweiz einen Aufruhr aus, der in ihrer Geschichte einmalig war und weit über die Landesgrenzen hinaus für Irritation und Unglauben sorgte. Die Empörung des Volkes über das Versagen des Managements lenkt aber davon ab, dass der Untergang der Swissair eine tiefere Bedeutung hat, die nach wie vor nicht wahrgenommen werden will. Auf der psychodynamischen Ebene nämlich ist der „Fall Swissair“ mehr als ein volkswirtschaftliches Desaster. Beispielhaft spiegelt er die Befindlichkeit eines Landes in einer Zeit gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umwälzungen.
Der plötzlich verstummte Lärm der Flugzeugmotoren über der Stadt Zürich und die Bilder der am Boden stehenden Flugzeuge am 2. Oktober 2001 lösten landesweit eine schockartige Reaktion aus. Mit unerbittlicher Härte wurde hör- und sichtbar, dass das Unvorstellbare Realität geworden war: Das Nationalsymbol des Schweizer Volkes, die Swissair, war am Boden. Zwei Tage vorher hatte die historische Pressekonferenz stattgefunden, in der über den Antrag auf Nachlassstundung der SairGroup und gleichzeitig den Rettungsversuch einer neuen nationalen Fluggesellschaft informiert wurde.
Die heftigen emotionalen Reaktionen waren umso erstaunlicher, als in den Medien die kritische Situation der SairGroup schon seit Jahren thematisiert wurde. Spätestens seit dem 20. Januar 2001, als Konzernchef Philipp Bruggisser mit sofortiger Wirkung entlassen wurde, also gut acht Monate vor dem Grounding, wurde mit unmissverständlicher Deutlichkeit klar, dass die SairGroup auf einem gigantischen Schuldenberg sass. Sie hatte sich in finanzielle Verpflichtungen im Ausland eingelassen, die die Schulden täglich um Millionenbeträge anwachsen liessen Obwohl also spätestens seit Anfang Jahr die existentielle Bedrohung nicht mehr übersehen werden konnte, wollte dies weiterhin niemand wahrnehmen.
Die landesweite Erschütterung, die spätestens nach dem Grounding zum Ausdruck kam, war in ihrer Form in der Schweiz einmalig. Die Emotionalisierung des Ereignisses löste eine Dynamik aus, in der eine sachliche, rationale Berichterstattung unterging. Der Schock und die Empörung machten sich in Schuldzuweisungen Luft, von denen alle mitgerissen wurden.
Wie lässt sich nun erklären, warum der Bund, Kantone, Volk und Wirtschaft - vielleicht wider besseres Wissen und offenbar zähneknirschend mit dem Prinzip Hoffnung - zu Helfern in der Not wurden und sich auf eine Rettung eingelassen haben, die alles andere als gewährleistet ist? Wie lässt sich die Identifikation mit den roten Heckflossen erklären und uns zu Tränen rühren, wenn wir die Flugzeuge am Boden stehen sehen, als wären sie ein Teil unseres Selbst? Wie lässt sich erklären, dass sowohl die Anteilnahme wie auch die Beschreibung dieses Ereignisses Züge einer Vermenschlichung annahmen, indem von Totenschein und Beerdigung oder von klinischem Tod und Wiederbelebung gesprochen wurde?
Auffallend in allen Berichterstattungen ist, dass das Versagen personalisiert und ausschliesslich firmenintern bzw. im Zusammenspiel mit den Banken gesehen wird. So, als hätte es keine Einbindung in Abhängigkeiten und Gegebenheiten im europäischen und globalen Raum gegeben, die das Entwicklungspotenzial dieser Firma mitbestimmt haben. Nur der Aviatik-Journalist Sepp Moser schreibt in seinem Buch „Bruchlandung“: “Vordergründig geht es dabei um Fehlurteile und Fehlentscheide von Managern. Hinter diesen stand jedoch immer ein Verwaltungsrat*. Dieser seinerseits war das Resultat der in der Schweiz herrschenden wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse. Und diese wiederum waren letztlich nicht mehr als das Abbild der kollektiven Befindlichkeit dieses Landes“(2001, S. 153). Ein kleiner Abschnitt in einem Buch, der es wert ist, in den Mittelpunkt gerückt zu werden. Denn die Emotionalisierung dieses Ereignisses weist auf eine sozio-psychologische Bedeutung hin, die über die Tatsache hinausgeht, dass eine traditionsreiche nationale Institution nicht mehr ist. Ein realer Aspekt war die Angst vor dem Verlust von Tausenden von Arbeitsplätzen und der damit verbundene Domino-Effekt, der viele kleine und mittlere Betriebe in finanzielle Schwierigkeiten bis zum Konkurs mitziehen würde. Schockartig wurde deutlich, wie gross die gegenseitigen Abhängigkeiten sind. Für die Schweiz, die sich an ihre vermeintliche Unabhängigkeit klammert, wurde hier für alle nachvollziehbar und vielleicht wirklich zum ersten Mal deutlich, dass Unabhängigkeit eine Fiktion ist.
Betrachtet man den Fall Swissair als Spiegel der Schweiz vor dem Hintergrund der sie umgebenden wirtschaftlichen und politischen Veränderungen, so eröffnet sich ein anderer Zugang zum Verständnis des Geschehens, einem Verständnis auf der gesellschaftlichen Ebene, die ohne die Berücksichtigung der psychodynamischen Ebene nicht verstanden werden kann.
Der Zugang zum Verständnis auf der psychodynamischen Ebene
Die rasante technologische und gesellschaftliche Veränderung, die zu einem globalisierten Denken und Handeln führt, bringt Umwälzungen mit sich, die klare Zielvorstellungen erschweren und alles Traditionelle verändern werden. Wie ein Mobile oder wie Dominosteine sind die Organisationen weltweit eingebunden und gegenseitig voneinander abhängig. Das Wort von Heraklit „Es gibt nichts Dauernderes als den Wandel“ scheint so präsent wie noch nie. Das ist die Überzeugung von Peter Drucker, Professor für Sozialwissenschaften und Management an der Claremont Graduate University in Kalifornien. In seinen Thesen „Die Gesellschaft von Morgen“ führt er aus, dass die Gesellschaft der Zukunft erst im Werden begriffen ist und dass die grössten Veränderungen noch vor uns liegen. Um zu überleben und erfolgreich zu sein, muss sich jede Organisation in einen Motor der Veränderung verwandeln. Für den einzelnen Menschen bedeutet dies, dass ständiges Lernen und lebenslange Weiterbildung zur Normalität gehören werden, oder anders ausgedrückt, dass ständige Veränderung zum einzig Stabilen wird. Aber ebenso, wie Gruppen und Gesellschaften sich durch Widerstände und Rückzug auf Vertrautes und Traditionelles den Veränderungen zu entziehen versuchen, bedeuten Veränderungen für den einzelnen Menschen Erschütterungen, die er zu vermeiden sucht. Der Psychoanalytiker Fritz Morgenthaler beschreibt sein Verständnis von Psychoanalyse bzw. das, was psychische Veränderung erst möglich macht, so: „Dass es im psychoanalytischen Prozess um eine Befreiung und Erweiterung der Emotionalität geht und dass die Analyse im Zuge der Übertragungsentwicklung zu einem tiefen emotionalen Aufruhr führt: nur der Aufruhr vermag neurotische Fixierungen zu lockern“ (1978, S.38). Dieser tiefe emotionale Aufruhr ist immer verbunden mit Trauer, weil Veränderung immer auch ein Verlust bedeutet.
Dass wir mitten in Umwälzungen sind, die in ihren Folgen unabsehbar und scheinbar chaotisch sind, zeigt sich sehr deutlich im Topmanagement. Erstens, weil die Topmanager zunehmend im Rampenlicht erscheinen, und zweitens, weil das Scheitern dieser Berufssparte die Zeitungsspalten füllt. Als Shooting Stars erscheinen sie in den Medien und geraten ebenso schnell unter Druck, wenn sie sich in den Augen der Öffentlichkeit unmoralisch verhalten oder Versprechen nicht einhalten können. Drucker ist denn auch der Überzeugung, dass etwas im System nicht mehr stimmen kann, wenn es Genies sind, die Toppositionen besetzen müssten und einstmals fähige und kompetente Menschen reihenweise versagen. Und das „Versagen“ des Managements ist die psychodynamische Ebene, auf der man den Untergang der Swissair betrachten kann.
Kein anderes Unternehmen in der Schweiz war mit dem Begriff Heimat so eng verknüpft wie die Swissair, weil kein anderes Unternehmen die Schweiz – und damit uns - sichtbarer im Ausland repräsentierte. Und Fliegen verlangt, wie kein anderes Transportmittel, ein blindes Vertrauen in die Fähigkeiten der Piloten. Dies wiederum bedeutet verstärkte Abhängigkeitsgefühle, die regressive Prozesse fördern. Dieses Zusammentreffen verschiedener mit emotionalen Inhalten gefüllter Vorstellungen machte die Swissair zu einem geeigneten Übertragungsobjekt.
In Zeiten erhöhter Verunsicherung oder Vorstellungen einer Bedrohung verstärken sich regressive Tendenzen, in denen frühe psychische Abwehrmechanismen wie die projektive Identifizierung und Spaltung aktualisiert werden. Die projektive Identifikation dient, entwicklungspsychologisch verstanden, dem frühen Ich, um unerwünschte und bedrohliche Gefühlszustände, aber auch gute, wertvolle und wünschenswerte Anteile des Selbst vor der Gefahr innerer Beschädigung zu schützen, sie auszustossen und in das Objekt hineinzuverlagern. Nimmt das Objekt diese Projektionen in sich auf, so kommt es zu einer introjektiven Identifizierung. Auf der Gruppenebene erscheinen diese emotionalen Zustände immer dann, wenn Verunsicherung und Bedrohung zunehmen und die emotionale Ebene die sachlich rationale überlagert. Die aktualisierten Abhängigkeitswünsche, Wünsche nach einer väterlichen Instanz, die damit verbunden sind, müssen auf ein idealisiertes Objekt projiziert werden, dem zugetraut wird, diese Gefühlszustände zu bewältigen. Wenn wir uns, wie oben angetönt, in einem gesellschaftlichen Veränderungsprozess befinden, der keine klare Orientierung zulässt und auf verschiedenen Ebenen stattfindet, so muss eine Psychodynamik dieser Art zwangsläufig auftauchen. Da sich als Übertragungsobjekt aber nur der Mensch anbietet, sind es das Topmanagement und der Verwaltungsrat, die diesen emotionalen unbewussten Druck auszuhalten haben. Um diesen Druck aber auszuhalten, ist die Identifikation mit der Idealisierung eine Notwendigkeit, weil es daneben nur das Versagen gibt. Das heisst, dass Angst und Überforderung abgespalten werden müssen. Denn eine Idealisierung geht immer einher mit einer Zuschreibung von besonderen Fähigkeiten und oft auch von Grössenfantasien. Nur so ist zu verstehen, dass es bei Rücktritten im Topmanagement nie darum geht, dass ein Manager zurücktritt, weil er sich in seiner Selbsteinschätzung geirrt hat und sich überfordert fühlt. Diese Menschen treten nie selber, aber immer im gegenseitigen Einverständnis zurück und das Nicht-Genügen wird mit horrenden Summen vergütet. Denn erfüllt die gesetzte Person diese Qualitäten nicht, so wird sie gnadenlos vom Sockel gestossen und ebenso entwertet, wie sie vorher idealisiert wurde. Der Abwehrmechanismus der Spaltung der Objekte in Gut und Böse gehört ebenso zu dieser Psychodynamik. Wenn das vorgestellte gute Objekt enttäuscht, dann wird es entwertet. Nicht zuletzt diese Phänomene dürften dazu geführt haben, dass sich in der Swissair über die Jahre hinweg eine Informationskultur entwickelt hatte, die keine negativen Informationen zuliess, sondern dem Erwartungsdruck immer mit positiven Nachrichten gerecht wurde, womit ein Mythos Swissair überhaupt entstehen konnte. Ein sachlich argumentierender und den Fokus auf das Flugunternehmen richtender, kritischer Journalist wie Sepp Moser wurde zwangsläufig zum Aggressor, da er im eigentlichen Sinne einen Kampf gegen diese Idealisierung führte. Im alten Griechenland wurde derjenige, der die schlechte Nachricht überbrachte, umgebracht. Im übertragenen Sinne könnte man sagen, dass Sepp Moser immer wieder zum Schweigen gebracht wurde, weil die Seite, die das Scheitern vorstellbar machte, abgespalten werden musste.
Diese langjährig gewachsene emotionale Bindung an die Swissair und der unbewusste Druck auf das Management kam erst deutlich zum Ausdruck in der Ära des Konzernchefs Bruggisser. Das Netz der zunehmend unfreiwilligen Abhängigkeiten durch das Nein der Schweiz zum EWR und der Deregulierung des Marktes schränkten das Entwicklungspotenzial der Swissair ein. Nichtsdestotrotz hatte Bruggissser den Auftrag, die Swissair als eine unabhängige, erfolgreiche und bedeutende Airline in der Welt zu positionieren, einen Auftrag, der unter diesen Umständen vielleicht gar nicht zu erfüllen war und mit der Hunter-Strategie seinen unglücklichen Anfang vom Ende nahm. Die Hunter-Strategie beinhaltete den Plan, sich an mehreren kleinen Fluggesellschaften zu beteiligen, um so das Überleben und die Unabhängigkeit der Swissair zu sichern und konkurrenzfähig gegenüber anderen Allianzen wie Star-Alliance oder Oneworld zu bleiben. Dass die emotionale Ebene die sachliche beherrschte, wurde ganz deutlich, als am 3. September 1998 eine MD-11 der Swissair vor Halifax abstürzte und über 200 Passagiere ihr Leben verloren. Was damals den Konzernchef Philipp Bruggisser zum Übervater machte, dem erst jetzt uneingeschränktes Vertrauen entgegengebracht wurde, war die Tatsache, dass er Emotionen zeigte. „Unvermittelt steht Bruggisser, dem bislang Attribute wie spröde, kopflastig und kleinkrämerisch zugeschrieben wurden, als grosser Kommunikator da. Das Personal ist stolz auf seinen Chef. Flight Attendant Andreas Nitsch spricht stellvertretend für alle Mitarbeiterinnen in der „Sonntags-Zeitung“ von einer Vaterfigur und einem Kapitän, der das Schiff führt“(2001. S.216), schreibt René Lüchinger in seinem Buch „Der Fall Swissair“. Im selben Jahr wird Bruggisser zu einem der zehn besten Manager in der Schweiz gekürt. Diese Idealisierung, mit der sich Bruggisser offensichtlich identifizierte, führte dazu, dass er zunehmend im Alleingang die Entwicklung und das Überleben der Swissair steuerte und dabei, so scheint es, in einer splendid islolation immer panikartiger seine Vision umzusetzen versuchte, um die bedrohliche Realität auszublenden. Es scheint, als hätte dieses tragische Unglück die Idealisierung Bruggissers gefördert und auch im zunehmend überforderten Verwaltungsrat zu einer Abhängigkeit und damit Passivität geführt, die rationales und sachliches Denken verhinderte. Nur so lässt sich erklären, dass die fristlose Entlassung Bruggissers einer Panikreaktion gleichkam. Kein Übergangsszenario war vorhanden, und das kurze chaotische Intermezzo von Verwaltungratspräsident* Eric Honegger zeigte die Arbeitsunfähigkeit des gesamten Verwaltungsrates auf, in dem notabene fast alles erfolgreiche Manager grosser, global tätiger Firmen sassen. Auch die Ablehnung von Moritz Suter, dem Gründer der Crossair, der kleinen aber erfolgreichen Tochtergesellschaft der Swissair, der diese Identifikation mit der Swissair nicht mittrug, sondern sich für ein Nischenprodukt stark machte, kann in diesem Zusammenhang verstanden werden. Denn auch er attackierte mit „seinem Produkt“, mit der Crossair, den Mythos Swissair immer wieder.
Das enttäuschte Volk war geschockt, Bruggisser wurde entidealisiert und, wie später Verwaltungsratspräsident Eric Honegger, als die Abgangsentschädigungen bekannt wurden, entwertet und als unmoralisch taxiert. Fast alle Verwaltungsräte gaben nun ihren Rücktritt bekannt. Wiederum war es eine Emotionalisierung der Situation, als der letzte aus dem alten Verwaltungsrat , Mario Corti, das Verwaltungsratspräsidium und die Funktion des CEO* in dieser schwierigen Situation übernahm. An der Generalversammlung fuhr er sich mit einem Kamm lächelnd durch die Haare und stellte sich mit dieser emotionalen Geste als väterliche Projektionsfläche zur Verfügung, in die wieder alles Gute hineinprojiziert werden konnte. Wiederum wurden seine Fähigkeiten als fast magisch beschrieben. Was ihm restloses Vertrauen einbrachte, war die Tatsache, dass er die SairGroup wieder in Swissair umbenannte. Die nationale Identifikation mit den roten Heckflossen konnte ungetrübt weiterbestehen. Die Ängste waren gebannt und die Hoffnung wieder intakt. Traditionelle Strukturen und eine langjährige, unkritische Kultur, die von den Swissair-Angestellten als auch vom Schweizer Volk geteilt wurde, lassen sich nur langsam verändern, und die Zeit dafür war nicht vorhanden. Hätte der neue Konzernchef Mario Corti radikale Sparmassnahmen inklusive Stellenabbau so schnell in die Tat umgesetzt, wie er sich für den alten Namen entschieden hatte, er hätte keine Unterstützung gehabt, sondern die Entidealisierung wäre stehenden Fusses gekommen. Der Druck, Übervater zu sein, zu retten und trotzdem alles beim Alten zu belassen, muss unerträglich gewesen sein. Wiederum blieb nur die introjektive Identifizierung mit Abspaltung aller Ängste und Bedrohungen und wieder bedeutete dies ein wahrscheinlich unausführbarer Auftrag.
Der emotionale Aufruhr, der am 2. Oktober das Grounding auslöste, kam einer narzisstischen Kränkung gleich. Nicht nur die Swissair war untergegangen, der Glaube an eine unabhängige, starke und eigenständige Schweiz war erschüttert worden. Um diese tiefe Verunsicherung nicht aushalten zu müssen, wurde sofort nach den Schuldigen gesucht und das Versagen personalisiert. Die Idee, eine oder mehrere Personen seien schuld an der Situation, geht von der Vorstellung aus, dass jemand den Überblick hat. Das ist immer noch besser als die Vorstellung einer totalen Überforderung aller Beteiligten. Die Spaltung in Gut und Böse konnte nun an Personen festgemacht werden. Die Banken bzw. deren Vertreter Marcel Ospel, UBS-Konzernchef, dienten als Projektionsfläche für das Böse, Gemeine und Selbstsüchtige, und Mario Corti wurde zum Held. Es ist zu vermuten, dass Marcel Ospel tatsächlich Hilfestellung leisten wollte und ebenso einem emotionalen Druck erlegen war. Keine Bank würde normalerweise in ein solches Geschäft investieren. Die Entwertung seiner Person war genauso überzeichnet, wie die Idealisierung von Mario Corti.
Die Enttäuschung und Entidealisierung des vormaligen Helden Mario Corti, die inzwischen auch über ihn hereingebrochen ist, steht immer noch im Zusammenhang mit dem unverrückbaren Glauben, dass das Scheitern der Swissair allein firmenintern zu suchen ist. Dabei ist eher anzunehmen, dass gerade die Aussergewöhnlichkeit der Vertragsvereinbarung über die Vorauszahlung seines fünfjährigen Honorars, worauf das Volk empört reagierte, mit einem magischen Denken zu tun hatte. Nämlich mit der Vorstellung aller Verantwortlichen, dass er in fünf Jahren noch hier sein und die Swissair in ihrer alten Pracht in den Himmel steigen wird. Als Garantie und Einbindung der eigenen Ängste vor der Verantwortung. Auch Mario Corti konnte sich der Identifikation mit dem Übermenschlichen nicht entziehen.
Die Swissair ist auch gescheitert an der Idealisierung durch das Volk, das den Verantwortlichen fast magische Fähigkeiten zuschrieb, die ebenso realitätsfremd waren wie jetzt die Entwertungen. Sie ist auch gescheitert an der Angst des Schweizer Volkes vor Veränderung und Einbindung in eine grössere Gemeinschaft, was mit der Vorstellung von Auflösung der eigenen Identität verbunden ist. Sie ist auch zu verstehen auf dem Hintergrund der globalen Veränderungen, die auf uns zukommen und denen wir uns nicht entziehen können. Die Chance, aus dem Untergang der Swissair etwas zu lernen, würde darin bestehen, sich auf der bewussten Ebene mit diesen Ängsten auseinanderzusetzen.
Einen Zugang zum Verständnis auf der gesellschaftlichen Ebene ermöglicht die Theorie über die „Gesellschaft der Individuen“ des Soziologen Norbert Elias (1987). Die Theorie der Figuration, die er entwirft, betrachtet den Menschen als „offene Persönlichkeit“, die notwendigerweise immer in Verbindung zu anderen Menschen steht und daher nur über einen relativen Grad an Autonomie, aber niemals über eine absolute Autonomie verfügt. Das Netz von Angewiesenheiten von Menschen aufeinander ist das, was sie miteinander verbindet. Menschen sind Zeit ihres Lebens aufeinander angewiesen und bewegen sich dementsprechend nur in Figurationen bzw. Gruppen oder Gesellschaften. Die Menschheit an sich befindet sich aber in einem permanenten ungeplanten Entwicklungsprozess, in dem die Gruppen oder Staaten sich immer wieder in ihrer Zusammensetzung ändern, was eine nächsthöhere Entwicklungsstufe beinhaltet. Auf der wirtschaftlichen Ebene zeigt sich das in den Fusionen, auf der staatlichen Ebene wird das in der europäischen Gemeinschaft deutlich. Die Integrationsschritte, die dabei bewältigt werden müssen, gehen immer mit Erschütterungen einher. Vergleichbar ist dieser Prozess mit dem individuellen Entwicklungsprozess des Menschen. Ein dreissigjähriger Mensch ist ohne die vorangegangenen 29 Jahre nicht denkbar. Die Persönlichkeit entwickelt sich in der Abfolge der Jahre. Die verschiedenen Entwicklungsstufen, die dabei überwunden werden müssen, sind oft mit Krisensituationen verbunden. In der Gesellschaft entsteht der Entwicklungsdruck durch den technischen Fortschritt, der wirtschaftliche Implikationen nach sich zieht und insgesamt zu einem zwischenstaatlichen Konkurrenzdruck führt. Dieser Entwicklungsdruck drängt die einzelnen Gruppen bzw. Länder zur Integration über die Stufe der Nationalstaaten hinaus zur Bildung vereinigter Staaten. Was aber sachlich und rational in Bezug auf die europäische Union einleuchtet, lässt die kollektive Befindlichkeit der einzelnen Staaten ausser acht: „Bei der Untersuchung gesellschaftlicher Entwicklungsvorgänge begegnet man immer von neuem einer Konstellation, wo die Dynamik ungeplanter sozialer Prozesse über eine bestimmte Stufe hinaus in der Richtung auf eine andere, ob eine nächsthöhere oder niedrigere Stufe, vorstösst, während die von dieser Veränderung betroffenen Menschen in ihrer Persönlichkeitsstruktur, in ihrem sozialen Habitus auf einer früheren Stufe beharren“ (1996, S. 281), schreibt Elias. Diese Nachhinkeffekte, wie Elias sie bezeichnet, oder kollektiven Widerstände beinhalten gefühlsstarke Vorstellungen, die sich der Integration widersetzen, weil sie den Charakter eines Untergangs haben, eines Verlustes, über den man nie aufhören kann zu trauern. Eine nationale oder Wir-Identität, das Zugehörigkeitsgefühl zu einem Land, entwickelt sich über Generationen. Eine Veränderung beinhaltet die Vorstellung eines Identitätsverlustes, der einer Sinnentleerung all dessen gleichkommt, wofür die Vorfahren im Rahmen und im Namen dieser Gruppeneinheit gearbeitet und gelitten haben. Die Vorstellung, ein Europäer zu sein, beinhaltet noch keine genügende emotionale Bindung im Gegensatz zum emotionalen Inhalt der Vorstellung, Schweizer, Italiener oder Deutscher zu sein. Das Festhalten der Schweiz an ihrer Unabhängigkeit und die politische Emotionalisierung dieser Thematik sind Ausdruck dieser kollektiven Widerstände oder dieses Nachhinkeeffektes. Die Stimme des Widerstands, Christoph Blocher, der populärste Politiker der rechtsgerichteten SVP, argumentiert denn auch immer mit den Ängsten vor Auflösung der nationalen Identität durch die Macht der sie umgebenden Länder. Dass wir aber eingebunden sind in die europäische Union, auch wenn wir nicht dabei sind, und dass wir nicht darum herum kommen werden, diesen Integrationsschritt zu bejahen, wird schon allein durch die geografische Lage bestimmt.
Die Swissair repräsentierte diese nationale Identität mit allen Attributen, die einen Schweizer Charakter auszeichnen. Keine andere Institution war mit dem Begriff Heimat so eng verknüpft und wurde über Jahre hinweg idealisiert und zu einem unantastbaren Mythos. Der Zusammenbruch der SairGroup ist das Ergebnis eines Ringens um eine vermeintliche Unabhängigkeit, die am Ende einer splendid isolation gleichkam und bei der sich dieser Konzern in Abhängigkeiten verstrickte, die untrennbar mit der Angst vor der Auflösung durch das Aufgehen in andere, grössere und mächtigere Allianzen bzw. Gruppen oder Gesellschaften zusammenhing.
Der Trauerprozess, der einen Entwicklungsschritt notwendigerweise begleitet, weil Entwicklung immer mit Verlust von Vertrautem verbunden ist, wird abgewehrt durch das Festhalten an einer nationalen, global tätigen Airline. Swiss beinhaltet dasselbe Idealisierungspotenzial wie vorher die Swissair. Mit Unterstützung des Volks soll die Swiss wie die frühere Swissair zu einer herausragenden, speziellen, einzigartigen Airline der Luxusklasse werden. Das weisse Kreuz auf den roten Heckflosse bleibt, ebenso die Gefahr, dass die Realität weiterhin verleugnet werden kann, nämlich dass die Schweiz im globalen Markt zu klein ist, um mit einer Airline ganz gross zu sein. Die Chance, dass die Identität aber im Verbund mit einer grösseren Gemeinschaft gewahrt werden kann, bleibt ungenutzt.
Fussnoten:
- Verwaltungsrat*: Aufsichtsrat
- Verwaltungsratspräsident*: Aufsichtsratspräsident
- CEO*: chief executive officer, Konzernchef
Eine kürzere Version des vorliegenden Artikels ist am 11.4.2002 in der NZZ (Neue Zürcher Zeitung) in Zürich erschienen.
Literatur:
- Elias, N. (1987): Die Gesellschaft der Individuen, Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1996
- Drucker, P.: Die Gesellschaft von Morgen, Zeitschrift Weltwoche, 20.12. 2001, Zürich
- Lüchinger, R.: Der Fall der Swissair, Wirtschafts-Medien AG, Bilanz, Zürich, 2001
- Moser, S.: Bruchlandung, Verlag orell füssli Zürich, 2001
- Morgenthaler, F.: Technik, Zur Dialektik der Psychoanalytischen Praxis, Syndikat, Frankfurt am Main, 1978